Nobelpreis für Literatur 2019 an Peter Handke



„Wenn die Welt nicht erzittert, ist das Schreiben der Mühe nicht wert“
Ermunterung zur Lektüre von Peter Handkes Gesamtwerk

Peter Handke hat die Welt erzittern lassen, mit seinen leisen und mit seinen lauten Tönen, begonnen mit seiner ersten Einmischung 1966 bei der Tagung der Gruppe 47 in Princeton. Mit seiner Wortmeldung und dem Rundumschlag unter dem Stichwort der „Beschreibungsimpotenz“ verstieß der junge Autor – aus Unkenntnis, wie er später versicherte – gegen jahrelang gültige Regeln der renommierten Gruppentreffen: „Ja, ich hab nicht so viel Zeit, Herr Handke, wir wissen jetzt genau, was Sie meinen“, hatte Hans Werner Richter damals Handkes Wortbeitrag ironisierend kommentiert. Dieser hatte für Unruhe, aber auch für Applaus bei der Zuhörerschaft gesorgt. Handke legte seinerseits ironisch nach mit seinen programmatischen Schriften, zusammengestellt in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972). Darin führt er sein Verständnis von der Poesie als Herz der Welt gegen das politische Schreiben aus – mit Sartre und Brecht als Reibungs- und Kristallisationsflächen. Statt eines epischen Theaters im Sinne Brechts, das den Zuschauer auf Distanz halte, sucht der an sich scheue „Schreiber“ mit seiner Literatur die Berührung mit dem Publikum. Das Öffnen der vierten Wand des Theaters in Publikumsbeschimpfung kann sinnbildlich für diese gesuchte Nähe stehen, die eine fordernde ist. Denn der scheinbar einseitige Akt der Öffnung lässt das Gegenüber nicht aus der Verantwortung, die ihm daraus erwächst. In welch hohem Grad sich das Publikum auch dieses Mal persönlich angesprochen fühlte, zeigt die online verfügbare Aufzeichnung der Uraufführung aus dem Frankfurter Theater am Turm (1966).

Die derzeit grassierende Diffamierung des Autors und seiner Schriften versucht, eben jene Verbindung zu kappen, die Handkes Schreiben zu jeder Zeit ausgemacht hat und weiterhin ausmacht. Seinen angestammten LeserInnen kann das wenig anhaben, denn sie wissen wie die Schwedische Akademie, dass dieser Autor ein literarisches Ausnahmetalent ist, dessen Name in einer fortsetzbaren Reihe mit Homer, Cervantes, Goethe, Flaubert, Tolstoi u.v.m. zu stehen verdient. Doch es ist ein unlauteres Verfahren mit Blick auf eine noch unbedarfte Leserschaft.

Handkes Haltung und schreibende Ausführung spielt hinein in ein grundlegendes poetisches Prinzip: der (Selbst-)Bewusstwerdung durch Sprache und Lektüre, die nicht nur für den Autor gilt, sondern vor allem auch den einzelnen Leser zu sich selbst befreien soll, in der anverwandelnden Auseinandersetzung mit der Tradition. In seinem Rückgriff auf Texte Wolfram von Eschenbachs oder Chrétien de Troyes beispielsweise zeigt Handke deren Aktualität auf und erneuert sie als gegenwartsrelevante Lektüre. Auch sein Einsatz für vom Kanon ausgeschlossene Dichter wie Emmanuel Bove, Hermann Lenz, Florjan Lipuš, Gustav Januš oder durch Übersetzung den Literaturnobelpreisträger von 2014 Patrick Modiano ist zu erwähnen. Handke hat damit in Summa einen wichtigen Beitrag zur Kanonkorrektur geleistet.

Die Protagonisten von Handkes Werken sind keine selbstsicheren Figuren, sondern bleiben Suchende: im Reisen, in den Lektürewelten und innerhalb des selbstgeschaffenen, durchaus als philosophisch zu bezeichnenden Denkgebäudes. Sie befinden sich in einem nie endenden Prozess, den die Literatur anstoßen, begleiten, dem sie aufhelfen kann, indem sie ein Beispiel gibt. Sein Prinzip der Langsamkeit, das eines der Erdverbundenheit im (Er)Gehen der Welt und der Gedanken ist, hat die Entwicklung heilsamer Sprachgebilde zum Ziel. Von daher ist Handkes Schaffen seinem Wesen und Grundverständnis nach wirkungsästhetisch aufgeladen: „Wenn die Welt nicht erzittert, ist das Schreiben der Mühe nicht wert.“, bemerkt Handke 2014 im Interview mit Alain Veinstein. Dabei jedoch ist es, wie Evelyn Polt-Heinzl es in ihrer Untersuchung In Gegenwelten unterwegs benannt hat, „ein Schreiben ohne Sicherheitsnetz, konsequent, ungeschützt und radikal“.

Von seinen literarischen Anfängen an hat sich Handke schreibend auf den Weg begeben und Methode um Methode um(ge)schrieben. Er ist dabei seinem frühen Anspruch an ein Schreiben als Arbeit mit „relfektierten Schemata“ (Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms) treu geblieben, ohne in einen Schematismus zu verfallen. Einige Stationen einer beispielhaften Reihe seien erwähnt: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) nimmt Strukturen des Kriminalromans auf, ohne sie einzulösen, Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) entwaffnet den Western, Wunschloses Unglück (1972) reflektiert auf Autobiographie und Biographie und zeigt ihre Verwobenheit, ihr Zusammenprallen in einem Moment des horror vacui im Bewusstsein, Falsche Bewegung (1975) schreibt den Entwicklungsroman neu als einen Weg zur Schriftstellerexistenz im Alleinsein, Noch einmal für Thukydides (1990) changiert zwischen Kurzgeschichte und Reisebericht, das Theaterstück Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) kommt ohne ein gesprochenes Wort aus und der Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996) ist zwischen Epos und Geschichtsschreibung situiert. In diesen Umformungen wird zugleich das Wesen der jeweiligen Gattungen sichtbar, führt die Öffnung der Texte in Richtung klassischer Lesegewohnheiten, die uneingelöst bleiben, bei den Rezipienten notwendig zur Reflexion auf das selbstverständlich Gewordene. Im Spiel mit dem Altbekannten hat Handke auf virtuose Weise unzählbare neue Formen gestiftet.

Handkes Aufmerksamkeit für die kleinen, alltäglichen Dinge, die so selbstverständlich sind, dass sie unbegriffen bleiben, schließt an das Vorhaben eines Wahrnehmungswechsels an. Es zeigt, dass ein Sehen mit Sprache weit schwieriger ist, als es die Leichtigkeit der Notate erscheinen lässt. Jeder Blickwechsel, jedes Verlassen eines gewohnten Standpunktes ist eine kleine Erfindung. Man kann von einem neuen Sehen bei Handke sprechen, das sich noch in den Zeichnungen der Notizbücher zeigt.

Schreibend und Zeichnend befindet sich Handke in einem steten Annäherungsversuch auf dem Weg zu den Menschen, sein Volksbegriff ist ein Menschheitsbegriff. Und dies gilt auch für die Jugoslawien-Schriften, denn jenes Land war für Handke der Prototyp eines multikulturellen Europas, einer geeinten Menschheit, die friedlich zusammenlebt trotz unterschiedlicher Ethnien und Konfessionen. Als „Bruderkrieg“, eine Steigerung des ohnehin schon Unbeschreiblichen, das der Krieg bedeutet, hat Handke den Zerfall Jugoslawiens in seiner Winterlichen Reise bezeichnet. Und als solcher ist er literarisch nicht zu fassen und vom Autor auch nicht gefasst worden. Seine Jugoslawien-Schriften haben anderes zur Zielscheibe: Sie richten sich gegen die Institutionen und Machtzentren (politische wie journalistische), die ihre Kräfte nicht zum Wohl der Menschen einsetzen, die, statt schlichtend einzugreifen, einen entstandenen Zwist zwischen Brüdern und Schwestern noch befeuern.

Bei der Textinterpretation ist im Allgemeinen anzuraten, die Autorperson von den Figuren/Personen der Werke zu trennen, im Fall Handkes jedoch weniger, um das Werk moralisch vom Autor abzukoppeln und sich auf einen Ästhetizismus rauszureden, der den Autor aus der Verantwortung entlässt. Handke selbst hat immer wieder ein solches Verantwortungsgefühl betont. Vielmehr entgrenzt die Trennung das Blickfeld und ermöglicht eine produktive, zum Verständnis der Werke Handkes notwendige Perspektivöffnung. Erst dann wird nämlich sichtbar, dass gerade die Engführung von Leben und Schreiben Handkes grundlegendes Verständnis von Literatur berührt: das Poetische als Existenzform. Dieses äußert sich in der Vermittlung einer epischen Seinsweise, nicht als (auto-)biographische Korrektheit. Stattdessen geht es Handke, wie z.B. in seiner Pentalogie der VersucheVersuch über die Müdigkeit (1989), Versuch über die Jukebox (1990), Versuch über den geglückten Tag (1991), Versuch über den Stillen Ort (2012), Versuch über den Pilznarren (2013) – darum, das gelebte Leben anhand von Sujets zu erzählen, d.h. durch und in der Schrift die Autobiographie zu transformieren. In den Versuchen geschieht dies mit Blick auf die Form u.a. durch die Verwischung der Grenzen zur Novellistik und Essayistik.

Kaum ein anderer Autor der Gegenwart hat sich wie Handke über die Jahre durchgehalten in der beständigen Wandlung. In jedem Buch erfindet er sich neu und bleibt doch wiedererkennbar in seiner ihm eigenen poetischen Sprache. Die sich von Mal zu Mal steigernde Komplexität, mit der er traditionelle Erzählformen aufgreift, um sie im Licht der Gegenwart verändert zu zeigen, sucht in der zeitgenössischen Literatur Ihresgleichen. Die Schwedische Akademie hat Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere (2017) besonders hervorgehoben, jenen zum Epos ausgeweiteten Versuch über den geglückten Tag, der sich zwischen mittelalterlicher Âventiure, Heiligenvita und Reiseroman bewegt. Der Erzähler übergibt darin den Stab poetischer Welterfahrung an die nächste Generation. Alt geworden, macht er sich auf die Reise zur Obstdiebin, um sich in ihre Geschichte hinein aufzulösen oder aber als ihr Achtgeber jeden ihrer epischen Schritte zu begleiten. Die Erzählung kann stellvertretend angeführt werden für die großen Reise- und Verwandlungsepen der vergangenen Jahrzehnte: von Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) über In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (1997), Der Bildverlust oder durch die Sierra de Gredos (2002) bis zur Morawischen Nacht (2008) oder Der Große Fall (2011). Sie sind stets auch Gänge durch das eigene Werk, Gespräche mit dem Werk-Leser/der Werk-Leserin. Dieses Erzählen beharrt auf dem Traum von einer friedlichen Gemeinschaft der Lesenden.

Peter Handke hat als Autor und Schreiber die Welt erzittern lassen und sich damit nicht nur, wie er selbst sagt, sein höchstpersönliches Existenzrecht gesichert, sondern auch sein Preisrecht, das über die Jahre seines Schaffens längst zu einer Preispflicht geworden war, zu der sich die Schwedische Akademie bekannt hat. Es war und bleibt eine glückliche Entscheidung für den literarischen Betrieb und für die welterzitternde Kraft des Poetischen.

© Tanja Angela Kunz
10.12.2019